Momentaufnahme eines Ironmans

7. Juli 2013, 19:09 Uhr – „You are an Ironman!“ Seit über 12 Stunden bin ich für diesen Satz unterwegs. Gerade bin ich über den roten Teppich ins Ziel geflogen als wäre davor nichts gewesen – keine 3,8 Kilometer Schwimmen, keine 180 Kilometer Radfahren und kein Marathonlauf von 42 Kilometern und schon gar nicht der Anfall von Schwäche vier Kilometer vor dem Ziel. Ich bin Alterklassen-Athlet, seit diesem Jahr in der AK 45. Um mir ein Ticket für die Weltmeisterschaft auf Hawaii zu holen, hätte ich gut drei Stunden schneller sein müssen. Das hatte ich nicht vor. Die Letzten werden vier Stunden länger brauchen als ich. Auch sie werden auf der Ziellinie gefeiert wie Helden. Das ist Triathlon!

Mathias Priebe, Ironman Frankfurt 2014
Glücklich im Ziel. Vier bunte Bändchen für je eine erkämpfte Laufrunde beim Marathon. Davor waren 180 km Radfahren und 3,8 km Schwimmen.

Dies sind Momentaufnahmen meines dritten Ironman Triathlons. Sie beschreiben einen Tag, der vor zehn Jahren für mich unvorstellbar war. Selbst für die Entfernung, die hier geschwommen wird, hätte ich ein Taxi bestellt. Daran habe ich etwas geändert. Und das hat mich verändert. Heute werde ich sogar den Weltmeister überholen.

Abbrechen will ich schon nach 30 Sekunden. Der Gedanke ans Aufgeben kommt irgendwann in jedem Rennen, nur nicht so früh. Dieses Mal schlucke ich nach dem Startschuss soviel Wasser, dass ich buchstäblich gleich die Nase voll habe. Taktisch klug war es nicht, mich in gerader Linie zur ersten Boje aufzustellen. 2.600 Athleten suchen Punkt 7.00 Uhr den kürzesten Weg durch den Langener Waldsee. Aus der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens muss es aussehen wie ein Karpfenteich beim Abfischen. Zuviele zappeln in zu wenig Wasser. Aber es gibt kein Zurück, der Weg an Land ist abgeschnitten von tausenden Armen und Beinen, die versuchen Wasser und nicht Schwimmer zu treffen. Kraulschwimmen geht anders. Das hier ist Überlebenskampf.

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Alles ist jetzt. Davor und danach ist nichts.

Ich bin stolz auf meine Schwimmzeit: 1 Stunde und 16 Minuten. Die 3,8 Kilometer schwimme ich durchweg im Kraulstil. Es ist nicht lange her, da konnte ich das keine hundert Meter. In Frankfurt gibt es einen kurzen Landgang nach etwa der Hälfte. Hier, dicht beim Start, wollte ich vorhin noch aufhören, doch inzwischen macht mir das Schwimmen wieder Spaß. Ich komme gut voran, atme im Wechsel nach links und rechts. Allein für diese Dreieratmung habe ich über ein Jahr Training gebraucht. Jetzt zahlt es sich aus. Alle sechs bis zehn Züge ein kurzer Blick nach vorn, immer die nächste Boje im Blick. Es ist diese Konzentration, die mich fasziniert. Wer im Triathlon an das denkt, was vor einem liegt, der hat verloren. Wer zurückschaut kommt nicht voran. Jetzt zählt nur der linke Arm, dann der rechte. Streckung nach vorn, atmen, durchziehen, strecken, durchziehen, strecken, durchziehen, atmen, schauen… Heute könnten wir von mir aus die ganzen 226 Kilometer schwimmen! Auf der zweiten Runde passiert etwas Neues für mich. Ich überhole einen nach dem anderen Schwimmer, kann mir stärkere suchen und eine Weile in ihrem Heckwasser bleiben. Das ist wie ein Spiel, bei dem die Zeit plötzlich ihre Dimension verliert. Alles ist jetzt. Davor und danach ist nichts. Ich bin im Wettkampf angekommen. Ich freue mich auf zwei Runden Rennradfahren am Taunus. Bei einem Schnitt von 30 km/h werde ich 6 Stunden unterwegs sein bis der Marathonlauf beginnt.

In meinen Augen ist Triathlon ein langer Arbeitstag, an dem ich nicht den Kopf sondern den ganzen Körper anstrengen muss.

Es ist ein mentaler Trick, der mir die Angst vor dem Ironman mit seinen gewaltigen Distanzen genommen hat. In meinen Augen ist Triathlon ein langer Arbeitstag, an dem ich nicht den Kopf sondern den ganzen Körper anstrengen muss. Das Leben hält größere Herausforderungen bereit. Vielleicht gehe ich Dank des Sports inzwischen besser damit um, kann Rückschläge wegstecken, Ziele realistisch formulieren. Ich versuche, das Prinzip aus dem Triathlon zu übertragen: Ausdauer, Beharrlichkeit und Vielseitigkeit mit dem dafür nötigen Training. Warum mache ich überhaupt Triathlon? Vielleicht ist es die Suche nach der inneren Stärke, die einen weitermachen lässt, wo andere aufgeben. Ich lebe mit dem guten Gefühl, dass diese Kraft unbegrenzt ist.

Zurück nach Frankfurt. Vor mir liegen „The Hell“, „The Beast“ und „Heartbreak-Hill“. Steigungen bei einem Ironman tragen solche Namen. Auf dem Rad passiert erstaunlich wenig, was heute noch der Rede wert wäre. Seit meinem letzten Langdistanz-Triathlon verzichte ich unterwegs auf Radcomputer und Pulsuhr. Ich fahre nach Gefühl und weiß, dass ein 30-er Schnitt heute schwer erreichbar ist. Ich habe zu wenig trainiert. Der Winter war zu lang und ich sitze nicht gern stundenlang auf der Trainingsrolle. Diese Vorbereitung fehlt mir, aber ich kenne die Distanz und die Zeit im Sattel. Oberhalb von Frankfurt ist es windig, natürlich von vorn. Es beginnt ein neues Spiel. Die richtigen Gänge wählen, so lange wie möglich in der sogenannten Tri-Position fahren, tief auf dem Lenker liegend. Mein Rad ist keine dieser Zeitfahrmaschinen, die elektronische Gangschaltungen mit Rahmen und Felgen aus Karbonfasern kombinieren. Treten muss ich allein. Eine Schrecksekunde erlebe ich kurz vor dem zweiten Wechsel. Ein Fußgänger läuft mir bei voller Fahrt beinahe ins Rennrad. Ich brülle sehr laut „Stopp!“ und nach geglücktem Ausweichmanöver ein sehr böses Wort.

Die Verpflegungsstellen sind die Meilensteine des Nachmittages

Den Weltmeister hole ich auf der Laufstrecke ein. Vor einem Jahr hat der australische Profi-Triathlet Pete Jacobs die Ironman Weltmeisterschaft Hawaii gewonnen. In Frankfurt am Main laufe ich an ihm vorbei. Zuerst denke ich, wie originell von diesem Altersklassenkollegen, den Namen des Champions auf den Rücken seines Einteilers zu schreiben. Erst auf seiner Höhe realisiere ich, er ist es selbst! Es ist noch nicht 14 Uhr und er geht, von Krämpfen gezeichnet auf der letzten von vier Laufrunden. Drüben auf der anderen Mainseite wird gleich der Spanier Eneko Llanos in weniger als acht Stunden den Sieg und damit die Europameisterschaft holen. Ich bin in der ersten Laufrunde. Mein Marathon hat gerade erst begonnen. Tatsächlich hat Pete Jacobs gut 37 Kilometer Vorsprung. Aber im Augenblick bin ich frischer. Mir liegt so etwas auf der Zunge, wie: „Come on Pete, Go, Go, Go!“ Aber irgendwie erscheint mir das unpassend. Selbst wenn der nach Hause kriechen würde, wäre er immer noch Stunden vor mir im Ziel. Gibt es eine andere Sportart, in der man das erleben kann? Auf Augenhöhe mit den besten der Welt. Wir kämpfen mit der selben Hitze. Die Zuschauer feuern uns beide mit der gleichen Begeisterung an.

Ich laufe irgendwann nur noch von einem Becher Wasser zum nächsten.

Der Moment, als ich am Weltmeister vorbei laufe, motiviert mich sehr. Ich habe mein Lauftempo gefunden, suche Läufer vor mir, die ich einholen kann. Sie tragen bunte Haargummis am Arm, mit denen die Runden gezählt werden. Ich habe noch keinen. Darüber darf ich jetzt nicht nachdenken. Alles was zählt ist der nächste Schritt. Er bringt mich näher ans Ziel. Noch einer, noch einer, und noch einer … Im Augenblick geht das sehr gut. Um die Oberschenkel zu kühlen, schütte ich Eiswürfel in die Hose. Die Verpflegungsstellen sind die Meilensteine des Nachmittages. Ich laufe irgendwann nur noch von einem Becher Wasser zum nächsten. Der Einbruch kommt sehr spät bei Kilometer 38. Ich hatte mir gerade das vierte Bändchen geholt. Ohne Vorwarnung kommt die Rückmeldung von den Beinen: Es reicht. Schluss. Ich kann gerade noch langsam gehen. So bleibt es bis kurz vorm Ziel. Aber ich werde das Ziel erreichen, am Ende nur mit 9 Minuten Verspätung gegenüber dem gesteckten Ziel. „You are an Ironman!“ Für manche heißt das: „Du bist bekloppt“, andere sagen: „Wahnsinn!“ Beim Schreiben fällt mir auf, dass beides das Gleiche bedeutet. Na und? Ich bin ein Ironman.

Dieser Text erschien im Heft 10/2013 der Südtiroler Zeitschrift Kulturelemente im Rahmen eines Spezials über Extremsport.

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